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Irak: "Die Menschen bleiben, wenn sie Perspektiven haben"

Lucia Wicki-Rensch antwortet beantwortet Fragen zu ihrer Reise in den Irak

Interview-Partnerin: Lucia Wicki-Rensch, Informationsbeauftragte des Hilfswerks «Kirche in Not» Schweiz/Liechtenstein, Luzern (LW) Befrager: Stefan Treier, em. Gemeindeschreiber, Wohlen AG (ST)

ST Frau Wicki-Rensch, was hat Sie als Informationsbeauftragte des Hilfswerks «Kirche in Not (ACN)» zu einem Besuch im Nordirak bewogen?
LW Als den IS-Terroristen 2014 im Irak und in Syrien stets grössere Terraingewinne gelangen, gerieten die Angehörigen der religiösen Minderheiten in massive Not. Allein im Irak flohen von einem Tag auf den anderen über 120‘000 Christen vor den heranrückenden IS-Einheiten. Auch von den vom Einmarsch des IS überraschten Jesiden kamen viele ums Leben. Dank beherztem Eingreifen des irakischen Militärs und Verbänden anderer Staaten gelang es, den IS zunächst aus der Ninive-Ebene und später aus Mosul zu vertreiben. In den Jahren der IS-Herrschaft wurde jedoch sehr viel zerstört, was nun wiederaufgebaut werden muss.
Für mich persönlich war wichtig, den irakischen Christen vor Ort Mut zu machen, dass sie auf unsere Hilfe aus der Schweiz zählen können und dass ihr Schicksal uns am Herzen liegt. Den Leuten, die wir trafen, machte dies Hoffnung. Einige waren sehr beeindruckt, dass ich extra aus der Schweiz angereist war, um mich vor Ort über ihre Sorgen zu informieren.

ST Wie haben Sie die Situation im Land erlebt? Was hat sie persönlich besonders berührt?
LW Ich erlebte Zerstörung, Traumata, Resignation, Verlust der Angehörigen bis hin zu Erleichterung, ja Hoffnung und gar Freude über eine neue Zukunftsperspektive. - Als Bündnerin mit rätoromanischen Wurzeln war es für mich immer schon wichtig, mich der Anliegen von Minderheiten anzunehmen. So haben mich die Begegnun­gen besonders berührt.

ST Die Infrastruktur, vor allem in stark bewohnten Gebieten, wurde offenbar weitgehend zerstört. Wie ist die Situation derzeit, nach der Vertreibung des IS? Und was ist für die Zukunft geplant?
LW Für «Kirche in Not (ACN)» war von Anfang an klar, dass wir die Christen im Irak nicht im Stich lassen dürfen. Unter Federführung unseres Hilfswerks wurde 2017 das Komitee „Nineveh Reconstruction Committee (NRC)“ aus der Taufe gehoben. Dort wird der Wiederaufbau von Gebäuden der Christen koordiniert. Bis Ende 2018 konnten 41% der zerstörten Häuser wieder aufgebaut werden, was 46% der geflohenen Christen die Rückkehr ermöglichte.
Doch sind Korruption und Vetternwirtschaft im Irak weit verbreitet. Obwohl das Land grosse Erdölvorkommen hat, gilt ein Viertel der Bevölkerung als arm. Unter diesen Voraussetzungen ist es kaum möglich einen konkreten Zu­kunftsplan aufzustellen. Sicher ist nur, dass wir die Christen im Irak nicht im Stich lassen dürfen, sonst besteht die Gefahr, dass dort das Christentum nach 2000 jähriger Präsenz verschwindet.

ST Nach dem IS-Terror haben die Christen mit dem Wiederaufbau ihrer zerstörten Heimat begonnen. Welche Unterstützung erhalten sie – vom Staat, aus dem Ausland, von Hilfsorganisationen?
LW Schaltstelle und Motor des Wiederaufbaus in den christlichen Gebieten ist das „NRC)“. Es koordiniert jegliche Hilfe für die christlichen Dörfer. Nebst Zuwendungen von «Kirche in Not» ermöglichen Zahlungen von Staaten und Privatpersonen die Hilfe vor Ort. Ebenfalls sind weitere Organisationen oder andere Hilfswerke im Irak tätig Für die Hilfe an die Christen ist das NRC am wichtigsten

ST Konnten Sie mit Menschen sprechen, die unter dem Terror gelitten haben? Welche Perspek­tiven haben sie??
LW Es beeindruckte mich sehr, Menschen zu treffen, die vor dem IS fliehen mussten Der irakische Christ Abu Andi sagte: „Ich dachte nie daran, ins Ausland zu gehen. Der Irak ist meine Heimat. Hier ist alles, was mir lieb ist. Niemals soll es Terroristen wie dem IS gelingen, das Christentum aus dem Irak zu vertreiben.“ So wie Abu Andi denken jedoch nicht alle irakische Christen. Die meisten, die nach dem Einmarsch des IS nach Europa oder Nordamerika ausgewandert sind, werden höchstens noch zum Urlaub zurückkehren, aber nicht mehr für immer. Auch die Chri­sten, die in ihre Dörfer und Häuser zurückkehren werden nur langfristig dort bleiben, wenn sie Arbeit und Einkünfte haben. Deshalb hoffen wir sehr, dass der irakische Staat und die Privatwirtschaft ihre Verantwortung wahrnehmen.

ST Welche Bedürfnisse sollten nach Ihrer Einschätzung als erste befriedigt werden?
LW Der Wiederaufbau zerstörter Privathäuser, beschädig­ter Kirchen, sowie der nötigen Infrastruktur wie Strassen, Strom- und Wasser-Versor­gung. Die Christen im Irak bleiben im Land, wenn sie in ihre eigenen Häuser zurückkehren können. Das hat derzeit Priorität.

ST Gibt es Nichtchristen, die den Christen beimWiederaufbau behilflich sind? Findet ein interkonfessioneller Dialog statt
LW Die Besetzung durch den IS hat das Misstrauen unter den verschiedenen Ethnien im Irak verstärkt. Während der IS-Besetzung gab es Muslime, die Häuser ihrer christlichen Nachbarn plünderten. So wurde rasch Vertrauen zerstört. Bis es wieder aufgebaut werden kann, dauert es einige Zeit. Dass es auch anders geht, zeigten die irakischen Kurden. Sie gewährten den Christen mancherorts während der IS-Herrschaft grosszügig Aufnahme. Viele Christen fühlten sich im Kurdengebiet so gut aufgenommen, dass sie dort eine neue Existenz aufbauten. Das ist nur eine Minderheit – aber ein Beispiel, dass ein friedliches Miteinander im Irak durchaus möglich ist.

ST Wie gestaltet sich die Seelsorge der Christen? Gibt es eine ausreichende Betreuung der Gläubigen durch Priester und Ordensleute? Ist deren Einsatz gewährleistet?
LW Die Kirche nimmt im Irak eine sehr bedeutende Stellung ein. Ohne Kirchen, Priester und Ordensschwestern würde der Glaube rasch verdunsten und die Christen auswandern. Daher tun die irakischen Bischöfe und Patriarch Sako (Ober­haupt der chaldäisch-katholischen Kirche) alles, damit möglichst viele Kirchen, Klöster und Pfarreien wieder aufgebaut werden. Ordensfrauen und Priester setzen sich mit aller Kraft für die Rückkehr der Gläubigen in die Ninive-Ebene und nach Mosul ein. Sie betreuen die Gläubigen vor Ort so gut wie möglich und erfahren viel Dankbarkeit für ihren Einsatz und ihre Zuversicht. Schwester Clara sagte mir beim Besuch in ihrem Kloster: „Wenn wir als Ordensfrauen nicht in die Ninive-Ebene zurückkommen, wie sollen denn die übrigen Christen zurück­kehren wollen? Es war deshalb für mich und meine Mitschwestern klar, so rasch wie möglich zurückzukehren, sobald dies die Umstände zulassen.“

ST    Wie beurteilen Sie die Zukunftsaussichten für die noch verbliebenen Christen im Irak?
LW Zu meiner Überraschung traf ich auf Menschen, die voller Zuversicht in die Zukunft blicken. Gewiss spürte ich während Gesprächen ab und zu Sorgen, ob es richtig sei, im Irak zu bleiben. Aber die meisten irakischen Christen freuen sich, dass die IS-Terroristen vertrieben werden konnten und sie nun wieder in ihren Häusern leben können. In den christlichen Dörfern spürte ich eine Aufbruchsstimmung. Die Frage ist, wie sich der Irak weiter entwickeln wird. Bleibt es ruhig zwischen den irakischen Kurden und dem Zentralstaat? Wie behandelt der irakische Staat seine Minderheiten? Wir in der Schweiz können den Christen im Irak beistehen, indem wir für sie beten und sie materiell unterstützen. Dass «Kirche in Not» mit 47 Mio Franken Projekte im Irak in den vergangenen vier Jahren unterstützen konnte, war nur durch die grosszügige Hilfe unserer Wohltäter möglich. Alleine schon die erfahrene Solidarität der Christen in der Schweiz mit unseren Glaubensbrüdern im Irak lässt mich glauben, dass das Christentum im Irak eine Zukunft hat – selbst wenn die Umstände herausfordernd sind und bleiben.

Frau Wicki-Rensch, ich danke Ihnen herzlich für dieses Gespräch. März 2019

Fotos:

  1. Die vom IS zerstörte syrisch-orthodoxe Kirche der Heiligen Serge und Bacchus in Karakosch mit Lucia Wicki-Rensch (Bild: «Kirche in Not»)
  2. Lucia Wicki-Rensch und ein Priester Karamles - auf den Spuren der Zerstörung vom IS (Bild: «Kirche in Not»)
  3. Christliche Mädchen in Bartella (Bild: «Kirche in Not»)
  4. Wiederaufbau in der Ninive-Ebene (Bild: «Kirche in Not»)